CORONA I: WAS CORONA ÜBER UNS AUSSAGT UND WIE DIE WELT VON MORGEN AUSSEHEN KÖNNTE
Gnoti seauton stand am Portal zum Orakel in Delphi - „Erkenne dich selbst!“ Die zentrale Aufgabe des Menschen und Thema der Philosophie seit ihrem Beginn. Aber wie? Ganz einfach: in der Krise!
Das altgriechische Wort (κρίσις) krísis bedeutet ursprünglich so viel wie „Meinung“, „Beurteilung“, „Entscheidung“. Genau das ist jetzt von uns gefragt und wir sollten diese Chance auch ergreifen: werfen wir einen Blick auf unser Selbst in der Krise und die Gesellschaft im Allgemeinen.
In der Krise zeigt sich unser wahres Gesicht
Karl Jaspers hat gesagt: „Der Ursprung in den Grenzsituationen bringt den Grundantrieb, im Scheitern den Weg zum Sein zu gewinnen... In den Grenzsituationen zeigt sich entweder das Nichts, oder es wird fühlbar, was trotz und über allem verschwindenden Weltsein eigentlich ist.“ – Karl Jaspers
Die Betonung sollte hier auf dem „Eigentlichen“ liegen, auf dem, was mir eigen ist, was mich ausmacht. Aus der Grenzsituation heraus kann ein Sprung erfolgen, zum Selbstbewusstsein im Sinne des Bewusstseins meines Selbst. Damit einher geht ein Sprung in die Freiheit, denn diese Situation macht Entscheidungen notwendig. Wir müssen und können uns in dieser Situation verhalten.
Wie immer haben wir die Wahl. Auch jetzt können wir uns entscheiden, wie wir auf diese schwierige Situation reagieren. Von der Antike bis heute gibt es Philosophien, die zwar Schicksalsschläge und historische Konjunkturen als gegeben ansehen, den Menschen aber genau darüber definieren, wie er auf diese reagiert. Auch jetzt sehen wir wieder, dass sich unser Verhalten sehr unterschiedlich ausrichten kann. Wer ein wachsames Auge hat, erkennt verschiedene Reaktionstypen:
Die Solidarischen: An vielen Ecken und Enden wird eine starke Solidarität spürbar. Das Singen und Musizieren von Balkonen und aus dem Fenster soll die Zuversicht in allen stärken und einen Zusammenhalt in der Krise zum Ausdruck bringen.
Die Egoisten: Diejenigen, die sich zuallererst mit Vorräten eindecken, obwohl sie vielleicht ganz und gar nicht zur Risikogruppe zählen und vor dem Regal der Oma noch das Klopapier entreißen - ganz im Sinne von Thomas Hobbes: homo homini lupus est (der Mensch ist dem Mensch ein Wolf).
Die Distanzierten: Jene, die sich vor allem zurückziehen, folgsam und natürlich vernunftbegabt, sich in Deckung begeben. Sie setzen auf Durchhalten, Durchstehen, eine Gefahr, die es dabei gibt: Vereinsamung.
Die Wächter: Es gibt auch jene, die sich also Vertreter*innen der Staatsgewalt verstehen. Jene, die ihre Aufgabe im Maßregeln anderer sehen, wenn diese sich nicht den Vorgaben entsprechend verhalten. Dieser Typ liebt die Autorität und schließt sich ihr bereitwillig und gerne an. Wir kennen diesen Typ aus der Geschichte natürlich allzu gut.
Die Humoristen: Der Humor ist ebenso ein Prüfstein in der Krise. Er ist wichtig, um an leidvollen Situationen nicht zugrunde zu gehen. Allerdings müssen wir hier auf das Maß achten, denn Humor macht auch unempfindlich. Durch ihn können wir uns vom Leid und den Folgen distanzieren. Es gilt hier also eine Balance zu finden, um die Realität nicht ganz aus den Augen zu verlieren.
Also: Welcher Typ sind Sie?
Nehmen wir ein Beispiel. Wenn wir heute spazieren gehen - ja, es ist erlaubt - dann halten tatsächlich die meisten Menschen Abstand und machen einen großen Bogen. Wie wir uns hier begegnen, ist allerdings sehr unterschiedlich. Manche Menschen glauben, wir sollten uns weder in die Augen sehen noch grüßen. Warum ist mir noch nicht ganz klar, vielleicht weil wir uns auch visuell anstecken könnten? Sie wollen die Natur für sich genießen, sehen aber nicht ein, dass andere das auch wollen können. Sie schauen zu Boden, schleichen sich vorbei.
Andere halten einen großen Abstand, machen ebenso den Bogen, grüßen aber solidarisch in dem Sinne: wir sitzen im selben Boot, ich hoffe, dass es ihnen gut geht!
Beim Hobbesschen Typ (der Wolf) steht im Gesicht geschrieben: Verdammt, bleib doch zu Hause, ich will diesen Teil des Waldes für mich haben!
Die Humoristen könnten dazu tendieren das alles als Farce zu betrachten und weichen absichtlich nicht aus, stellen sich noch in den Weg, um auch im Sinne einer Protestkultur die eigene Identität zu stärken.
Die Wächter sitzen im Auto und drehen ihre Runden. Mit eisernem Blick versuchen sich, die Menschen von der Straße zu starren. Sie tragen meist auch noch alleine im Auto sitzend eine Schutzmaske.
Welche Chance birgt die Krise?
Noch einmal zum Wortstamm von „Krise“. Das Verb krínein bedeutete „trennen“ und „unterscheiden“. Wir sind also dazu aufgerufen, das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden zu können. Sowohl das Wort Krise als auch das Wort Kritik haben denselben Wortstamm. Krise und Kritik ergänzen sich. Wir können jetzt einen selbstkritischen Blick auf uns werfen, der nicht in einen Defätismus münden muss, sondern ganz im Gegenteil, uns klar machen kann, was wirklich zählt. Wählen wir unser Handeln also mit Bedacht.
Der Ausnahmezustand stellt eine Möglichkeit in den Raum: mich selbst zu erkennen. Denn im Alltag, der schön kuschelig eingerichtet ist, müssen wir uns selbst nicht unbedingt prüfen. Wir können ein Bild von uns generieren, das uns gefällt. Wir können uns in fiktive Grenzsituationen projizieren und uns ausmalen, wie wir uns im Ernstfall verhalten würden. Die Bilder malen wir dann ganz nach unserem Geschmack. Momentan ist das nicht mehr so einfach.
Es geht noch darüber hinaus: wir können uns auch prüfen in Hinsicht auf die Dimension unseres Solidaritätsempfindens. Es gibt nicht nur hierzulande Menschen, denen wir zur Seite stehen können, indem wir für sie einkaufen gehen, weil sie zu den Risikogruppen zählen. Vor allem an den europäischen Grenzen leiden Menschen noch mehr als zuvor an den menschenunwürdigen Bedingungen, an denen wir Mitschuld haben.
Ich kann also prüfen: tendiere ich zu einer rein nationalen Solidarität oder begreife ich mich im Sinne einer menschlichen Solidarität?
Werte: Freiheit vs. Sicherheit
Besonders jetzt setzen wir auf Sicherheit. Doch Sicherheit hat immer einen Preis, nämlich jenen der Freiheit. Wir geben viele Freiheiten momentan auf, z.B. die Mobilität, was sich natürlich als Notwendigkeit erweist. Doch auch hier sollten wir achtsam sein, denn schlussendlich ist alles immer eine Frage der Balance und des Maßes.
Sollen Netzanbieter Handydaten der Regierung zur Verfügung stellen, um herausfinden zu können, ob sich das Volk ordnungsgemäß verhält? Auch hier lassen sich meine Werte prüfen, indem ich mich Frage, wo und wann die Grenze des für mich Akzeptablen erreicht ist.
Wie kann die Welt nach Corona aussehen?
Worst case Szenario: es bleibt alles wie gehabt. Wir kehren zurück zum Hamsterrad, zur Entfremdung, zum Verlust des Selbst, zum unsolidarischen Verhalten und zur Kopf-in-den-Sand-steck-Mentalität. (Ausgenommen sind natürlich jene, die vorher schon erleuchtet waren.)
Alternativ: Wir können die Erkenntnisse, die wir gewonnen haben, bewahren und mit hinüber nehmen. Welche könnten das sein? Natürlich ist dies abhängig von der jeweilig gewonnen Erkenntnis, aber vorstellen könnte ich mir das Folgende:
Wir haben erkannt,
dass wir tatsächlich in der Lage sind zu handeln!!
Es gibt dann keine Ausreden mehr, wie: es ist einfach nicht machbar, dass wir unseren Konsum zurückschrauben oder wir können nicht auf all das verzichten, was notwendig wäre, um dem Klima nicht zu schaden. Tja, Ausreden ade, wir haben es leider bewiesen, dass es eben doch geht. Also vergessen wir das nicht und richten auch im Nachhinein unser Handeln danach aus.
dass Beziehung, Zusammenhalt, Solidarität, Menschenwürde, Freiheit dermaßen wichtige Werte sind, dass wir sie weder dem Komfort noch einem konstruierten Sicherheitsbedürfnis opfern wollen. Menschenwürde macht an den Grenzen nicht halt, sonst wäre der Begriff ein Oxymoron.
dass entfremdete Arbeit nicht das Richtige für uns ist. Arbeitszeitverkürzung und bedingungsloses Grundeinkommen könnten endlich tatsächlich auf die Agenda kommen, um auch gegen die nächste Krise besser gewappnet zu sein.
dass Berufe, die wir vorher vielleicht abschätzig beurteilt haben, die Eckpfeiler unserer Gesellschaft darstellen und sie bei weitem mehr Wertschätzung verdienen.
dass Bewegung für die Seele weit wichtiger ist, als wir es bisher vermutet haben.
dass Selbstbefragung und Selbsterkenntnis in allen Zeiten von Nöten sind.
dass wir bisher noch viel zu wenig Wissen über technische Möglichkeiten der Kommunikation hatten und dass wir das nun Erlernte auch in der Zukunft vernünftig anwenden wollen. Die Wertschätzung für die technischen Möglichkeit steigt jetzt enorm, muss aber natürlich immer im Ausgleich mit den oben genannten Werten zusammen gedacht werden.
dass Brettspiele den gemeinschaftlichen Zusammenhalt mehr fördern als Fernsehen.
usw.
Die Liste wird sich in den nächsten Wochen noch um einiges füllen lassen, davon gehe ich aus. Vor einer Sache müssen wir jedoch aufpassen: dass die derzeit selbstverständlich empfundene Leibfeindlichkeit sich nicht in unsere Körper einschreibt. Beginnend mit Nietzsche hat sich die Philosophie immer mehr der falschen Geringschätzung des Körpers gewidmet. Er hat den Leib als die größte Vernunft charakterisiert, wobei der Geist nur der kleine Bruder des Körpers wäre. Wir sollten nach dieser Krise den Italiener*innen wieder erlauben, sich innigst zu umarmen und vielleicht ziehen wir auch alle die Lehre daraus, dass der Mensch auf Berührung angewiesen ist.
Was bleibt, werden wir sehen. Wir können dann jedenfalls nicht mehr sagen, wir hätten nicht die Chance gehabt.
Bleibt gesund und solidarisch!