“Der Wert der Seele muss durch die Seele erkannt werden.” - Seneca

"Der Wert der Seele muss durch die Seele erkannt werden. Wenn diese einmal Zeit gewinnt, sich zu erholen und in sich selbst zurückzuziehen, so wird sie, von sich selbst bezwungen, die Wahrheit zugeben und sagen: »Alles, was ich bisher getan habe, möchte ich lieber ungeschehen machen; wenn ich zurückdenke, was ich alles gesagt habe, so beneide ich die Stummen; alles, was ich gewünscht habe, scheint mir ein Fluch der Feinde; alles, was ich gefürchtet habe, o Götter, wie viel weniger schlimm war es als das, was ich begehrt habe. Mit vielen war ich verfeindet und bin aus dem Hass wieder zur Freundschaft zurückgekehrt, falls es denn unter Schlechten Freundschaft gibt. Mir selbst aber bin ich noch kein Freund. Ich habe mir alle Mühe gegeben, mich aus der Menge hervorzuheben und durch irgendein Talent bemerkbar zu machen. Was anderes habe ich davon gewonnen, als dass ich mich den Angriffen meiner Gegner ausgesetzt und denen, die mir übel wollen, gezeigt habe, wo ich verletzbar bin. Siehst du jene Leute, die dein rhetorisches Geschick preisen, die deinem Geld nachjagen, um deine Gunst buhlen, deinen Einfluss in den Himmel heben? Alle sind entweder Feinde oder, was das Gleiche ist, können es sein. So viele Bewunderer, so viele Neider. Lieber will ich etwas suchen, was wirklich gut ist und wovon ich einen inneren Genuss habe, nicht etwas, das ich zur Schau stellen könnte. Das, was man anschaut, wovor man stehen bleibt, was einer dem anderen staunend zeigt, das glänzt von außen, von innen aber ist es ohne Wert.«" SENECA

In den letzten Tagen habe ich viele Stunden im Wald verbracht, um für einen Berg-Ultralauf zu trainieren. Dabei nehme ich absichtlich nichts mit – keine Kopfhörer, keine Podcasts –, um mich meinem Denken zu widmen und mich selbst zu beobachten. Während dieser stillen Stunden begleitet mich ein Gedanke von Seneca, der mich besonders anspricht: Der Wert der Seele muss durch die Seele erkannt werden.

Es ist ein eindringlicher Satz. Welche Seele meint Seneca? Offensichtlich die eigene. Die eigene Seele durch die eigene Seele erkennen – das klingt fast paradox und dennoch trägt es eine tiefe Wahrheit in sich. Auch wenn ich keinen festen Begriff von Seele habe, könnten wir hier "Seele" vielleicht als "Selbst" verstehen, als Selbstverhältnis und Selbstwahrnehmung. Dieses Bild wäre dann von einer reinen Immanenz getragen, die es uns dennoch ermöglicht, uns aus uns selbst heraus zu betrachten. Philosophisch könnte man hier auf Widersprüchlichkeiten eingehen, aber es bleibt ein Gefühl bestehen, dass es möglich ist.

Seneca fährt fort: Wenn die Seele einmal Zeit gewinnt, sich zu erholen und in sich selbst zurückzuziehen, dann wird sie, von sich selbst bezwungen, die Wahrheit erkennen. Dieser Gedanke spricht mich besonders an. In Momenten der Ruhe und des Rückzugs kann eine gewisse Wahrheit zum Vorschein kommen. Es kann der Moment der Erkenntnis eintreten, dass alles bisherige falsch war. Dabei geht es nicht um Reue oder Zweifel an unseren Taten, sondern eher um den Grundzustand, die Grundstrukturen, vielleicht auch die Grundhaltungen. Es ist ein grundlegendes Unbehagen, das Gefühl einer Unstimmigkeit. Wir erkennen, dass wir vielleicht die falschen Fragen gestellt, die falschen Prioritäten gesetzt und den falschen Blick auf die Dinge gelegt haben.

Seneca meint, dass wir oft das Falsche begehren und auch das Falsche wünschen und fürchten. Dies ist typisch stoisch. Doch die Frage, was wirklich wertvoll ist und welchen Dingen wir wirklich Priorität schenken sollten, ist durchaus bedeutsam. Wir stolpern durchs Leben, hassen den einen, lieben den anderen und wechseln wieder ab. Doch am eindringlichsten ist der Satz: Mir selbst aber bin ich noch kein Freund.

Hier möchte ich nicht auf den bereits oft behandelten Diskurs der Selbstliebe eingehen, denn Freundschaft bedeutet tatsächlich etwas anderes. Ein Freund bleibt immer ein anderer, so bleibe ich auch mir selbst eine andere, und das ist gut so. Die Frage ist nicht so sehr, ob ich mich selbst annehme, wie ich bin – das wäre der übliche Zugang zu diesem Thema. Viel spannender ist es, wenn wir Freundschaft mit uns selbst denken und uns fragen, wie sehr wir uns auf uns selbst verlassen können, wie sehr wir akzeptieren können, dass wir stets eine andere bleiben, und wie sehr wir trotz aller Differenzen mit uns selbst solidarisch bleiben.

Im weiteren Text geht es um die Frage der Anerkennung, mit der wir so oft zu kämpfen haben. Das Begehren nach Anerkennung ist eine soziale und gesellschaftliche Konstante, die wir aber in ihrer massiven Bedeutung immer wieder infrage stellen müssen. Alles, was Seneca hier anspricht, hat damit zu tun, dass wir uns vergleichen und dass genau dieser Vergleich ein massives Problem für uns und auch für das Bildungssystem darstellt. Seneca erwähnt den Neid und die Möglichkeit, dass alle potenziell zu Feinden werden. Vielmehr sollten wir uns fragen, was ohne Vergleich schön ist. Was affiziert uns, was zieht uns an, was lässt uns wachsen, was lässt uns strahlen?

Gesellschaftlich gesehen sind wir dann dafür verantwortlich, dieses Erleben auch allen anderen zu ermöglichen. Wir sollten für die besten Bedingungen für alle sorgen, ohne Landesgrenzen oder sonstige Grenzen, die wir künstlich in unseren Köpfen errichten.

Vielleicht können Euch diese Gedanken zur Anregung dienen. Schreibt mir gern in den Kommentaren.

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