Wachsen statt Ernten: eine philosophische Betrachtung

Stellen wir uns vor, wir stünden in einem üppigen Garten. Die Sonne scheint sanft durch die Blätter der Bäume, und überall um uns herum sprießt und gedeiht Leben in allen Formen und Farben. Ein kleines Pflänzchen, das wir vor Monaten gepflanzt haben, reckt sich stolz dem Licht entgegen. Wir erinnern uns an die Tage, an denen wir es gegossen und vor dem Wind geschützt haben. Wir haben ihm Zeit gegeben, haben es beobachtet und uns über jedes neue Blatt gefreut. Dieses Pflänzchen ist jetzt ein Symbol für das, was ich unter Wachstum verstehe.

In unserer Gesellschaft scheint alles auf die Ernte ausgerichtet zu sein. Wir durchlaufen Ausbildungen, um Zertifikate zu erhalten, arbeiten hart, um Profit zu erzielen, und messen Erfolg an messbaren Ergebnissen. Doch was wäre, wenn wir uns stattdessen auf das Wachstum konzentrieren würden? Nicht auf die Steigerung von Quantität (also die Wachstumsideologie des Kapitalismus, die in Wirklichkeit auf Steigerung angelegt ist), sondern auf die Pflege und das Gedeihen von Qualität und Vielfalt?

Stellen wir uns vor, wie sich die Menschen und die Gesellschaft verändern könnten, wenn wir uns auf die Wachstumsbedingungen fokussieren. Wie bei dem kleinen Pflänzchen in unserem Garten würden wir den Boden bereiten, gießen, für Wärme und Schutz sorgen und aufmerksam beobachten, was wächst. Wir würden staunen – staunen über das Wunder des Gedeihens. Es ginge nicht um die Quantität der Früchte, sondern um die Vielfalt und die Qualität des Lebens, das wir fördern.

In der Bildung würde das bedeuten, dass wir den Prozess des Lernens schätzen, anstatt nur auf Prüfungen und Zertifikate hinzuarbeiten. Kinder hätten die Freiheit, ihre eigenen Interessen zu entdecken und zu entfalten, ohne den Druck, ständig Leistung erbringen zu müssen. Wie viel reicher wäre ihre Erfahrung, wenn sie die Zeit hätten, wirklich zu wachsen?

In der Politik könnte diese Haltung zu einer neuen Art des Denkens führen. Anstatt kurzfristige Erfolge zu feiern, würden Politiker:innen nachhaltige, langfristige Lösungen fördern, die das Wohlbefinden der Gemeinschaft und der Umwelt in den Vordergrund stellen. Stellen wir uns vor, eine Welt, in der Entscheidungen nicht nach dem schnellsten Gewinn, sondern den besten Wachstumsbedingungen getroffen würden.

Die Philosoph:innen des Seins, wie Martin Heidegger und Hannah Arendt, haben viel über das Konzept des Werdens und des Seins nachgedacht. Heideggers Begriff des „Daseins“ betont das Bewusstsein und die Präsenz im Moment des Seins, während Arendt die Bedeutung des aktiven Lebens und des Handelns in der Welt hervorhebt. Beide Perspektiven unterstützen die Idee, dass das Wachstum an sich – das bewusste und aufmerksame Leben und Werden – von größerer Bedeutung ist als das Erreichen eines bestimmten Ergebnisses.

Wie würde sich unser Selbstverständnis ändern, wenn wir uns auf die Wachstumsbedingungen statt auf die Ernte konzentrieren würden? Es würde uns dazu anregen, aufmerksamer und bewusster zu leben, das Werden und Wachsen in uns selbst und anderen zu schätzen. Es würde uns ermutigen, einen Beitrag zum Gedeihen unserer Gemeinschaften zu leisten, indem wir Unterstützung und Pflege bieten, anstatt ständig nach messbaren Erfolgen zu streben.

Diese grundlegende Veränderung in unserer Haltung könnte eine tiefgreifende Transformation in der Gesellschaft bewirken. Es wäre ein Schritt weg von der Fixierung auf messbare Ergebnisse und hin zu einer Kultur des Staunens und des Respekts für das Wunder des Lebens und des Wachstums. Es ist ein Versuch wert, diese Perspektive zu erkunden und zu leben, denn letztendlich könnte es uns zu einem erfüllteren und sinnvolleren Leben führen.

In einer Welt, die von Profit und Ergebnissen besessen ist, müssen wir uns kritisch fragen, ob das ständige Streben nach „mehr“ uns wirklich weiterbringt. Es ist an der Zeit, sich dem Werden zuzuwenden und der Frage, was wir für dessen Gelingen beitragen können.

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“Der Wert der Seele muss durch die Seele erkannt werden.” - Seneca

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